header

Polly

Polly: Türkische und arabische Gemüsehändler machen Theater ist die neueste Produktion von Berthold Kogut mit der Musikschule Fanny Hensel, dem TIYATROM und der City VHS, die in vielerlei Hinsicht einen Opernabend der anderen Sorte verspricht.

Erstens handelt es sich um die deutsche Erstaufführung eines vergessenen und zu Lebzeiten des Autors verbotenen Stücks aus dem 18. Jahrhundert, das kein Geringerer als der berühmte John Gay als zweiten Teil seiner Beggar's Opera geschrieben hat.
Zweitens wurde die in Skizzen überlieferte Musik des Komponisten John Christopher Pepusch für unsere Aufführung ausgearbeitet und instrumentiert.
Drittens handelt es sich um ein pädagogisches Projekt, das sich humorvoll mit dem Thema Migration und Integration auseinandersetzt.

Gefördert wird diese Produktion vom Berliner Projektfonds Kulturelle Bildung, dem die Verbindung von Musik, Theater und gesellschaftlichem Engagement gefiel.

Fotogalerie »

Der Plot des Stückes

Polly - die Handlung
Die junge Britin Polly segelt in die Karibik, weil sie ihren Gatten Macheath dort vermutet. Kurz nach ihrer Ankunft muss sie erfahren, dass sie in eine Gesellschaft geraten ist, in der skrupellose Plantagenbesitzer, Sklavenhalter und Frauenhändler das Sagen haben: die europäischen Migranten des 18. Jahrhunderts.
Sie wird als Hure verkauft, kann aber als Mann verkleidet fliehen und mischt sich unter die Piraten, die den Indianern den Goldschatz rauben wollen. Polly, von der Tugendhaftigkeit der Indianer beeindruckt, schlägt sich auf deren Seite und nimmt schlussendlich den berüchtigten Piraten Morano gefangen, der sich nach seiner Hinrichtung aber als ihr heiß geliebter Mann Macheath entpuppt. Macheath hatte sich eine neue Identität zugelegt und unter dem Namen Morano als schwarzer Piratenkapitän das Karibische Meer und die Küstenstädte der britischen West Indies unsicher gemacht. Da der Autor John Gay sein Stück jedoch nicht mit einer unglücklichen jungen Dame beenden will, vermählt er Polly als Trost mit einem Indianerprinzen.

Polly - die Rahmenhandlung
Im Original von 1729 lässt John Gay - als Persiflage auf den Usus der Barockoper - nicht den obligatorischen Hofdichter auftreten, sondern den Autor, der sein Stück widerwillig zur Aufführung frei gibt. Unmittelbar vor der Vorstellung sagen jedoch alle Sänger aus fadenscheinigen Gründen ab (der Tenor, weil er keine Ziegenlederhandschuhe bekommen hat, der Bass, weil er keine perlfarbenen Strumpfhosen und Schuhe mit roten Absätzen tragen darf, und die Primadonna, weil ihr die Rolle zu platt ist und ihre Partie mindestens die einer Meeresgöttin sein müsste), sodass der Abend nur mit den Schauspielern stattfinden kann.

In unserer Aufführung (inszeniert als Traum einer jungen Dame von heute) bringt anstelle des Autors der TAGOA e.V. ("Türkisch-arabischer Gemüsehändler-Opernausschuss") die Oper auf die Bühne, um der deutschen Mehrheitsgesellschaft den Integrationswillen der türkischen und arabischen Gemüsehändler zu demonstrieren. Während der Aufführung kommt dem TAGOA e.V. die vage Erkenntnis, dass die Wahl des Stückes missverstanden werden könnte, weil alle europäischen Protagonisten, mit Ausnahme von Polly, entweder als verbrecherische Piraten oder als habgierige Plantagenbesitzer dargestellt werden.
Der TAGOA e.V. befürchtet einerseits, dass die Deutschen sich durch die Darstellung der Europäer möglicherweise beleidigt fühlen, und andererseits, dass das wenig schmeichelhafte Bild von Migranten, das in Polly gezeichnet wird, auf die hiesigen Migranten übertragen werden könnte.
Mehrmals greift der TAGOA e.V. vergeblich in die Aufführung ein. Frustriert hofft er auf ein baldiges Ende der Oper.

Die Schauspielerinnen und Schauspieler
Gespielt wird das Stück von Jugendlichen und jungen Erwachsenen des Türkischen Theaters Berlin TIYATROM, die mit ihrer Darstellung von Piraten, unsympathischen Parvenüs und Bordellbesitzerinnen, die als europäische Migranten im 18. Jh. die karibischen Inseln bevölkerten, mal so richtig die Bühnensau rauslassen können.

Ein erfrischender Nebeneffekt dabei ist, dass die Anforderungen, die heutzutage an Migranten gestellt werden, durch die europäischen Polly-Migranten, die samt und sonders Schurken sind und genussvoll dem Unrecht und der charakterlichen Desintegrität frönen, ad absurdum geführt werden.

Die Gesangspartien
Die Gesangsparts in Polly werden von Sängerinnen und Sängern der Musiktheaterwerkstatt der Musikschule Fanny Hensel übernommen. Es spielt das Neue Kammerorchester Wedding.

Die Dokumentation
Eine umfangreiche Dokumentation bietet Informationen zum Stück sowie Gespräche mit den Jugendlichen, die über ihre Arbeit am TIYATROM berichten und sich mit dem derzeit viel diskutierten Thema "Integration" beschäftigen. Die Dokumentation ist als Programmheft an den Aufführungstagen erhältlich und kann auf Wunsch unter cecileborn(at)aol.com bereits vorab bezogen werden.

Der Aufführungsort: Das Türkische Theater TIYATROM: Barockopernhaus mit osmanischem Flair
Trotz der enormen Beliebtheit von Barockopern gibt es in Berlin bisher kein richtiges Barockopernhaus. Um diesem traurigen Umstand abzuhelfen, wurde das abgeranzte und mittellose Türkische Theater in Berlin TIYATROM für die Polly-Produktion kurzerhand zu einem solchen umfunktioniert. Dem TIYATROM wurde vor zwei Jahren vonseiten der Senatskanzlei für kulturelle Angelegenheiten die jährliche Förderung in Höhe von 223.000 € entzogen. Die Miete, die Strom- und Heizkosten (ca. 36.000 € im Jahr) und alle anderen Kosten können nur durch Spenden von Eltern und durch Vermietungen bestritten werden. Eigenproduktionen mit professionellen Künstlern sind nicht mehr realisierbar. Yekta Arman, dem Leiter des TIYATROM, ist es zu verdanken, dass es ein türkisches Theater in Berlin überhaupt noch gibt und dass diese wichtige Bildungs- und Begegnungsstätte für Jugendliche bisher nicht sang- und klanglos aus dem Berliner Kulturleben verschwunden ist.

Last, but not least versteht sich die Polly-Produktion somit auch als Appell an die Öffentlichkeit, sich für das Weiterbestehen des Türkischen Theaters TIYATROM einzusetzen.

Hintergrundinformationen

Die Stückvorlage: John Gay und das Stück ‚Polly'
John Gays und Christopher Pepuschs The Beggar's Opera aus dem Jahre 1728 wurde nach seiner Wiederentdeckung im Jahre 1920 in viele Sprachen übersetzt. Brecht benutzte das Stück als Vorlage für die Dreigroschenoper. Der zweite Teil des Werkes, Polly, blieb weithin unbekannt. Eine Bearbeitung des Dramatikers Peter Hacks aus den 1960er Jahren verlegt den Ort der Handlung aus der Karibik nach Nordamerika, verändert Figuren und erweitert das dreiaktige Original um einen vierten Akt. Zu dieser Bearbeitung komponierte André Asriel eine verjazzte Schlagermusik im Geschmack der Zeit.
John Gay schrieb seine Polly kurz nach dem gigantischen Erfolg der The Beggar's Opera im Jahre 1728 in London, in deren Folge Händel seine Royal Academy of Music vorübergehend schließen musste. Das Erfolgsrezept von Gays Ballad Opera war relativ einfach: Im Gegensatz zur gängigen Praxis der Barockoper sind die handelnden Personen nicht mehr Könige, Prinzessinnen und Edelleute, sondern asoziale Verbrecher und Dirnen, die indes frappierende Ähnlichkeiten mit zeitgenössischen Politikern und Staatsbeamten aufweisen. Die Sprache der Oper ist Englisch, nicht Italienisch. Gays Komponist John Christopher Pepusch lieferte dazu eine Musik, die auf Gassenhauern, schottischen und irischen Balladen sowie bekannten Arien aus Opern zeitgenössischer Komponisten, vor allem von Georg Friedrich Händel und von Henry Purcell, beruhte.

In The Beggar's Opera beschreibt Gay den Sittenverfall einer Gesellschaft, in der Korruption politisches System geworden ist. Gays Geisselung der gesellschaftlichen Missstände galt den Unternehmern, im Parlament vertreten durch die Wighs (die Bürgerlichen), die nach dem Tod von Königin Anne die Mehrheit im Parlament innehatten. Bedingt durch die frühkapitalistische Entwicklung waren große Teile der Bevölkerung in Armut gestürzt. Gay, der ein Anhänger der Tories¹ war, verurteilt diese Entwicklungen von seinem konservativen Standpunkt aus.

Mit Polly - noch im selben Jahr geschrieben und ebenfalls mit der Musik von Pepusch - versuchte Gay, an den Erfolg der Beggar's Opera anzuknüpfen. Polly wurde jedoch unmittelbar nach dem Erscheinen vom leitenden Beamten des Hofes (dem Lord Chamberlain) mit dem Argument verboten, es handle sich um ein obszönes und verleumderisches Werk. Die Druckfassung aus dem Jahre 1729 erfreute sich aber großer Beliebtheit und führte zu zahlreichen Raubdrucken. Im Vorwort protestiert Gay gegen den Vorwurf, die Oper sei voll von Anschuldigungen gegen bestimmte wichtige Persönlichkeiten. Das Verbot von Polly geht höchstwahrscheinlich auf Sir Robert Walpole zurück, den damaligen ersten Premierminister Englands. Er sah sich in Polly erneut karikiert. Hatte Gay in der Beggars's Opera seinem Protagonistenpaar Macheath und Polly bereits Züge von Walpole und seiner Mätresse Maria Skerritt (der späteren zweiten Lady Walpole) verpasst, so meinte Walpole, sich in dem Folgestück in der Figur des skrupellosen Plantagenbesitzers Ducat wiederzuerkennen. Walpoles Aufstieg im Kabinett fiel in die Zeit, als die britische Regierung hoffte, mithilfe der South Sea Company die Staatsschulden zu begleichen. Walpole selbst hatte im großen Stil in die South Sea Company investiert, wurde aber von seinem Banker frühzeitig gewarnt, dass die Papiere an Wert verlieren würden, waren diese doch nur aufgrund eines Börsenschwindels so hoch gehandelt worden. Walpole konnte seine Anteile rechtzeitig vor dem Kollaps verkaufen (im Gegensatz zu Gay, der ebenfalls Aktien der South Sea Company gekauft hatte, jedoch alles verlor). Nach dem Platzen der sogenannten "Südseeblase" im Jahre 1721, in dessen Folge viele Kabinettsmitglieder wegen Korruption entlassen wurden, fungierte Walpole als Sachverwalter der Krise.
Die South Sea Company war ein internationales Handelsunternehmen, das mit Bekleidung, landwirtschaftlichen Gütern, aber auch mit Sklaven handelte. Gay scheint sich nach seinen persönlichen finanziellen Verlusten intensiv mit der britischen Kolonialgesellschaft auseinandergesetzt zu haben. Seine Kritik an der allgegenwärtigen Korruption, die er in der Beggar's Opera noch auf London beschränkt hatte, galt in Polly nunmehr dem gesamten British Empire, welches seine ökonomischen Interessen - so die Analyse von Gay - vor allem in den Kolonien mit moralisch fragwürdigen Methoden verfolgte.
In Polly verurteilt Gay die aufstrebende Klasse der Plantagenbesitzer, den britischen Sklavenhandel - und letztlich auch die Piraten.

Die Aufführung von Polly fand erst rund 50 Jahre später statt, jedoch in veränderter Form und mit einer anderen Musik².
John Gay hat seine Polly nur um wenige Jahre überlebt, er starb im Jahre 1732.

Die Bearbeitung der Stückvorlage von John Gay
Die deutschen Übersetzungen von Duran Görotas und Annika Buchsteiner aus dem Englischen wurden von Berthold Kogut bearbeitet. Bei den Arien wurden - aus Gründen der Korrespondenz von Wort und Musik - von Berthold Kogut Nachdichtungen vorgenommen.

Die Musik von Christopher Pepusch

Von Jürgen Peters, ‚Neues Kammerorchester Wedding'

Die Ausgangslage beim musikalischen Material von Polly ist ausgesprochen spärlich. Überliefert ist lediglich eine Sammlung der 71 Gesangsnummern des Werkes, in der die Gesangsstimme und eine unbezifferte Basslinie notiert sind. Anders als bei der Beggar´s Opera, von der die Partitur und die Einzelstimmen als verschollen gelten, die Melodien mit dem Generalbass aller 69 Musiknummern aber erhalten sind, wurde die Musik zu Polly möglicherweise gar nicht auskomponiert, da das Werk aufgrund eines Aufführungsverbots nicht zur Aufführung kam. Und auch bei der Beggar´s Opera stammen nur die Ouvertüre und ein Lied von Pepusch. Die anderen 67 Musiknummern der Oper sind englische, irische und schottische Balladen und Gassenhauer sowie bekannte Arien aus Opern zeitgenössischer Komponisten, vor allem von Georg Friedrich Händel und Henry Purcell. Die Melodien wurden von Pepusch lediglich mit einem Generalbass versehen. Sich auf diese Art und Weise bei den Kollegen zu bedienen, würde heute Anwälte und Gerichte auf den Plan rufen, und die bösen Diebe würden gnadenlos zur Kasse gebeten. Aber urheberrechtlichen Schutz kannte man zu der damaligen Zeit noch nicht. Selbst Wolfgang Amadeus Mozart nahm nach den Aufführungen seiner Werke aus Furcht vor Ideendiebstahl alle Noten sofort wieder an sich.
Um die Dauer der Aufführung auf etwa zwei Stunden zu begrenzen, wurden in einem ersten Schritt von den 71 Nummern des Originales 30 Stücke für unsere Aufführung ausgewählt, dann das zweistimmige Material von Robert Nassmacher harmonisiert sowie Vorspiele, Nachspiele und Zwischenspiele arrangiert. Im nächsten Schritt hat Jürgen Peters die Stücke instrumentiert und für unser barockes Opernorchester eingerichtet. Aus drei nicht berücksichtigten Stücken des Originales wurde von Robert Nassmacher eine Italienische Ouvertüre zusammengestellt.
Die türkische Musik für den Prolog und die Schlachtmusik im dritten Akt haben wir unsererseits in Aufnahme der schönen Tradition des musikalischen Diebstahls geklaut: Erstere beim Ensemble Kardeş (türkisch) und dem Kollegen Sıddık Doğan, Letztere beim Pepusch-Zeitgenossen Georg Philipp Telemann. Telemann hatte diese Musik für seine Don-Quijote-Streichersuite als klangliche Umsetzung des Angriffs des "Ritters von der traurigen Gestalt" auf die Windmühle geschaffen.

Die Orchesterbesetzung berücksichtigt alle gebräuchlichen und typischen Instrumente der Barockzeit, setzt aber z. B. in Ermangelung eines zeitgemäßen (um 1700 entstandenen) "Klappen-Chalumeaus" eine moderne Klarinette ein, weil wir diese Klangfarbe brauchen. Die quantitative Streicherbesetzung ist auf 4/4/3/4/1 reduziert, da dem Orchester auf der Bühne lediglich ca. 30 qm zur Verfügung stehen. Deshalb auch empfahl sich der Verzicht auf Blechblasinstrumente, weshalb wir für die Jagdhörner z. B. zwei von uns entwickelte "Violini da caccia" zum weltweit ersten Einsatz bringen.
Wie schon bei unserer Bettleroper-Produktion vor einigen Jahren sind den verschiedenen Protagonisten, die als Figuren mehrheitlich auch in Polly auftauchen, bestimmte Instrumente zugeordnet und in den Gesangsnummern, je nach charakterlicher und psychologischer Statur und Färbung, "colla parte" beigestellt. So wird Polly durch die Blockflöte "eingefärbt", der Piratenchef Morano/Macheath durch die Oboen, der Plantagenbesitzer Ducat durch das hoch geführte Fagott, die verschiedenen Damen aus allen gesellschaftlichen Sphären (und Abgründen) durch Flöte und Piccoloflöte, die Piraten durch Klarinette und tiefes Fagott und die Indianer durch Solostreicher und das Englischhorn. Das Englischhorn kennzeichnet überdies neben der Blockflöte auch Polly, sodass es in unserer Fassung die Stimme der Unterlegenen, Ausgebeuteten und Betrogenen repräsentiert und zu Klang werden lässt.

Programmheft (pdf) »

Zum Öffnen von PDF-Dateien benötigen Sie einen Adobe Acrobat Reader. Diesen können Sie hier kostenlos herunterladen.  Zum Download »


¹ Die Tories repräsentierten den alten Feudaladel
² Musik: Samuel Arnold


⇑ nach oben ⇑